Gesundheitswesen 2000; 62(4): 189-195
DOI: 10.1055/s-2000-10856
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Modellprojekt zur Neuordnung des Neugeborenen-Screenings in Bayern: Konzeption und erste Ergebnisse

B. Liebl1 , R. Fingerhut2 , W. Röschinger3 , A. Muntau3 , I. Knerr4 , B. Olgemöller2 , A. Zapf5 , A. A. Roscher3
  • Vorsorgezentrum des öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD), Landesuntersuchungsamt für das Gesundheitswesen Südbayern, Oberschleißheim
  • Labor Dres. Becker, Olgemöller & Partner, München
  • Kinderklinik und Kinderpoliklinik im Dr. von Haunerschen Kinderspital, Ludwig-Maximilians-Universität München
  • Universitätsklinik mit Poliklinik für Kinder und Jugendliche, Erlangen
  • Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Gesundheit, München
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Publication Date:
31 December 2000 (online)

Zusammenfassung

Das bayerische Neugeborenen-Screening-Programm war mit einer Reihe von Problemen konfrontiert. Untersuchungsumfang und Prozessqualität entsprachen nicht mehr den Screening-Richtlinien. Begünstigt durch eine Mischfinanzierung verteilt auf Staat (PKU, Galaktosämie) und Krankenkassen (Hypothyreose) war es zu einer zunehmenden Zersplitterung des Systems gekommen. Die dokumentierten Teilnahmeraten waren auf < 80 % gesunken. Eine zunehmende Zahl von Zweit-Screening-Untersuchungen auf Grund von Frühentlassungen verursachte zusätzliche organisatorische Schwierigkeiten. Zur Bewältigung dieser Probleme und angesichts methodisch-technologischer Entwicklungen (Tandem-Massenspektrometrie) wurde das Programm neu geordnet.

In seiner Grundkonzeption beruht das Modellprojekt, das am 1. Januar 1999 gestartet wurde, auf einer abgestimmten Zusammenarbeit zwischen Labor (Logistik, Analytik), universitären Einrichtungen (Nachsorge, wissenschaftliche Begleitung) und dem öffentlichen Gesundheitsdienst (Koordinierung, Tracking). Der Zeitpunkt der Blutentnahme wurde auf den dritten Lebenstag vorverlagert. Der Screening-Umfang wurde ausgeweitet auf den Biotinidase-Mangel, das adrenogenitale Syndrom (AGS) und durch Einführung der Tandem-Massenspektrometrie auf eine Vielzahl weiterer Stoffwechseldefekte (neben der PKU). Die Krankenkassen vergüten jetzt alle labormedizinischen Leistungen, die auf den privaten Sektor übertragen wurden. Um allen Neugeborenen die Teilnahme zu ermöglichen, werden die Namen der untersuchten gegen die geborenen Kinder durch den öffentlichen Gesundheitsdienst auf Landkreisebene (Gesundheitsämter) abgeglichen. Wiederholungsbedürftigen und auffälligen Befunden wird konsequent nachgegangen, bis eine Erkrankung ausgeschlossen oder bestätigt ist. Zwei klinische „Hotlines” wurden an den Universitätskinderkliniken in München (Südbayern) und Erlangen (Nordbayern) eingerichtet. Für die Teilnahme am Programm ist die schriftliche Einwilligung eines Elternteils erforderlich.

Die Teilnahmerate am neuen Vorsorgeprogramm konnte kontinuierlich gesteigert werden; seit April liegt sie bei über 95 %. In mehreren Fällen konnte das Screening bei nicht untersuchten Kindern auf Grund der Kontaktaufnahme mit den Eltern nachgeholt werden. Das Unterlassen der Untersuchung beruhte in der Regel auf Missverständnissen bei der Zuständigkeit für die Probenahme oder verlorengegangenen Proben. Bis August 1999 wurden 87 000 Neugeborene untersucht, bei denen insgesamt 52 Stoffwechselerkrankungen festgestellt wurden. Die Früherkennungsrate von Kindern mit angeborenen Stoffwechselstörungen konnte damit in etwa verdoppelt werden. Aus dem Bereich der neu untersuchten Erkrankungen wurden am häufigsten Kinder mit AGS (11 Fälle) erkannt. Die Tandem-Massenspektrometrie lieferte die Basis für die Diagnose in insgesamt 22 Fällen. Darunter trat neben der PKU (9 Fälle) der Medium-Chain-Acyl-CoA-Dehydrogenase(MCAD)-Mangel (6 Fälle) am häufigsten auf. Während die Kontrollraten für die meisten Erkrankungen bei < 0,1 % lagen, wies das AGS-Screening noch eine hohe Kontrollrate, insbesondere bei Frühgeborenen, auf. Die Zweit-Screening-Rate (Erstabnahme < 48 Std) betrug 1,3 %. Kontrollbedürftigen Befunden musste in ca. 20 % der Fälle durch spezielle Kontaktaufnahmen mit Geburtskliniken, weiterbetreuenden Ärzten, Hebammen oder Eltern nachgegangen werden. Bislang konnte bei allen erkrankten Kindern rechtzeitig mit der Behandlung begonnen werden.

The Bavarian Newborn Screening Model - Concept and First Results

The newborn screening programme in Bavaria was confronted with several problems. Number of disorders and process quality no longer complied with screening guidelines. Mixed financing, distributed between the state (PKU, galactosaemia) and health insurances (hypothyroidism) had promoted an increasing dissipation of the system. Notified participation rates had dropped to < 80 %. Increasing need for a second screening due to early discharge was an additional challenge. To overcome these problems, and considering the availability of improved screening methodology (tandem mass spectrometry) the programme was reorganised.

The project, which started on Jan 1, 1999, is based on a cooperation model between laboratory (logistics, analysis), universities (treatment, scientific evaluation), and public health services (coordination, tracking). Time of blood sampling was predated to the third day of life. Screening was extended to biotinidase deficiency, congenital adrenal hyperplasia (CAH) and by introduction of tandem mass spectrometry for screening of many other disorders (besides PKU). Insurances now finance complete laboratory analysis which was transferred to the private sector. To enable all newborn to participate, the names of screened children are matched against birth lists by public health services on a regional basis. Recalls and conspicuous results are consistently followed up until disorders are either excluded or confirmed. Two clinical hotlines were established in the children’s hospitals of the universities in Munich (Southern Bavaria) and in Erlangen (Northern Bavaria). Written consent is required for participation in the programme.

Participation in the new programme could be continually increased; coverage is > 95 % since April. In several cases screening was made up for not tested children by contacting their parents. Omitted screening was mostly due to misunderstandings regarding testing responsibility or lost samples. Altogether 52 cases of disorder were found in the 87 000 newborn screened until August 1999. Hence, the detection rate of children affected by inborn errors of metabolism was about twice as high than before changes. Among the newly screened diseases CAH was detected most often (11 cases). In 22 cases diagnosis was based on the use of tandem mass spectrometry. Among these (besides PKU, 9 cases) MCAD deficiency (6 cases) was detected most frequently. Whereas recall rates of most disorders were < 0.1 %, screening for CAH still revealed a high recall rate, particularly in premature births. Second screening due to early discharge (< 48 h) was required in 1.3 %. About 20 % of pending recalls required contacting birth hospitals, doctors, midwies or parents. So far all affected children could be brought to treatment in time.

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PD Dr. med. Bernhard Liebl

Landesuntersuchungsamt für das Gesundheitswesen Südbayern Vorsorgezentrum des ÖGD

85762 Oberschleißheim

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